“Vollbeschäftigung utopischer als ein Grundeinkommen”

von Steffen Greschner am 29. Dezember 2011

In der Zeit läuft ein angenehm unaufgeregtes Interview zum Thema Bedingungsloses Grundeinkommen. Theo Wehner, Arbeits- und Organisatiospsychologe an der Uni Zürich, und Sascha Liebermann vom Netzwerk Freiheit statt Vollbeschäftigung sprechen über die Chancen einer Neuordnung bestehender Sozialsysteme:

Theo Wehner: Ich würde sagen, dass Vollbeschäftigung eine utopischere Vorstellung ist als die eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Gesellschaft wird nicht auf technische und soziale Innovationen verzichten, und sollte es auch nicht. Das bedeutet zwangsläufig auch Rationalisierung. Gleichzeitig gelingt es den entwickelten Arbeitsgesellschaften nicht, Rationalisierungsgewinne gerecht beziehungsweise zum Nutzen aller zu verteilen. Das Ergebnis sind Resttätigkeiten, Dequalifizierung und Arbeitslosigkeit für die Einen und Arbeitsverdichtung, Selbstausbeutung und Erschöpfung für die Anderen.
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Liebermann: Mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen setzt sich das Einkommen, über das eine Person verfügt, anders zusammen als heute. Während der Lohn gegenwärtig sowohl die Existenzsicherung leisten als auch den Mitarbeiter würdigen soll, würde das durch das Bedingungslose Grundeinkommen getrennt. Für die Existenzsicherung sorgt das Bedingungslose Grundeinkommen, der Lohn drückt dann nur noch aus, welchen Anteil am Unternehmenserfolg ein Mitarbeiter erhält.
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Erwerbsarbeit ist ja nicht per se sinnvoll. Sie ist es nur, wenn sie zur Wertentstehung notwendig ist. Wo Maschinen sie ersetzen kann, können wir Lebenszeit zurückgewinnen. Durch ein Grundeinkommen wäre es möglich, sich Aufgaben zuzuwenden, die Maschinen nicht übernehmen können und die nicht zwangsläufig in Erwerbstätigkeit führen müssen.

Mehr Info und einen guten Überblick gibt ein aktueller Artikel im FLUTER, einem Magazin der Bundeszentrale für politische Bildung.

Bedingungsloses Grundeinkommen im politischen Diskurs

von Steffen Greschner am 29. Dezember 2011

Der dm-Drogeriemarkt-Gründer Götz W. Werner ist bekanntlich einer der Haupttreiber eines Bedingungslosen Grundeinkommens. Kurz vor Weihnachten war Werner in einem Statement die Freude über die gegenwärtige Entwicklung anzumerken:

„Die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens ist jetzt – nachdem die Piratenpartei sich für eine Auseinandersetzung mit der Idee im Bundestag ausgesprochen hat – in den parteipolitischen Diskurs eingetreten. Im gesellschaftlichen Diskurs hat die Idee in den vergangenen Jahren so viele Menschen angesprochen, dass die Zeit für eine breitere Debatte reif ist. Die Bedingungen für eine ergebnisoffene und voraussetzungslose Diskussion sind günstig. Die Piratenpartei ist zu klein, als dass sich die etablierten Parteien von ihr bedroht fühlen müssen – gleichzeitig ist sie groß genug, dass sie nicht negiert werden kann. Politiker aller Parteien werden sich nun mit der Idee beschäftigen müssen.“

Eine offene Debatte zu dem Thema ist lange überfällig. Außer Polemik war dazu in den letzten Jahren zumindest in den großen Medien nicht viel zu lesen. Dass sich das mit dem Auftauchen der Piraten etwas geändert hat, konnte man bereits in den letzten Monaten feststellen.

“Freiheit vor Ort – Handbuch kommunaler Netzpolitik”

von Steffen Greschner am 26. Dezember 2011

Kurz vor dem Jahreswechsel wollen wir ein Buch für kommunalpolitisch interessierte Menschen vorstellen: “Freiheit vor Ort – Handbuch kommunaler Netzpolitik“.

Wie der Titel schon sagt, behandelt das Buch die Chancen und Möglichkeiten kommunaler Politik durch das Internet.

Die damit einhergehenden Veränderungen in Wissensvermittlung, Kommunikation und Transparenz verunsichern manchen kommunalen Politiker, manchem macht es vielleicht sogar Angst. Unbestritten ist aber, dass wir momentan vor einer der größten Veränderung der letzten Jahrzehnte stehen:

Oder anders ausgedrückt: Je mehr das Netz Teil des täglichen Lebens wird, umso wichtiger ist, dass auch dieser Teil des Lebens nicht passiv wahrgenommen, sondern aktiv gestaltet wird.

Und das bedeutet auch, dass moderne Demokratien ihren Anspruch zur Gestaltung öffentlicher Räume auch auf den Bereich des Internets ausdehnen müssen.

Die Autoren haben ganz bewusst kein reines “Netzbuch” geschrieben, sondern versuchen über viele handfeste Projekte und Beispiele das Thema des Buches anschaulich zu erklären. Zu jedem Kapitel stehen am Ende Interviews mit Menschen, die in den jeweiligen Bereichen erste Erfahrungen gesammelt haben oder weiterführende Gedanken einbringen.

Thematisch wird ein Rudumschlag versucht, der in verschiedenen Kapiteln allen Interessierten (wie unter anderem den Gemeinderäten) einen ersten guten Einblick in die Themen der Zeit gibt:

  1. Freie Funknetze: Kommunale Kämpfe gegen „Digitale Spaltung“
  2. Creative Commmons
  3. Open Educational Resources in Universitäten und Schulen
  4. Freie Software im öffentlichen Sektor
  5. Öffentlicher Raum im Netz: Blogs, Wikis & Co
  6. Freier Zugang zu Forschung: Wege zu Open Access
  7. Das Web als Kompetenz- und Forschungsfeld
  8. Open Government als kommunale Herausforderung und Chance

An den Themen der Zeit orientieren sich die Autoren aber nicht nur bei den Inhalten. Einen neuen Weg in Sachen Urheberrecht gehen sie auch bei der Vermarktung des Buches: Das E-Book wird als PDF kostenlos zum Download angeboten. Wer das Projekt unterstützen möchte, kann sich aber auch die Papierversion für 24,95 Euro direkt bei amazon bestellen.

TIME Magazin wählt “Demonstranten” zur Person 2011

von Steffen Greschner am 20. Dezember 2011

2011 war wohl wirklich das Jahr in dem die Möglichkeiten und Veränderungen durch das Internet am deutlichsten geworden sind. Das TIME Magazin hat darum auch “den Demonstranten” zur Person des Jahres 2011 gewählt:

It’s remarkable how much the protest vanguards share. Everywhere they are disproportionately young, middle class and educated. Almost all the protests this year began as independent affairs, without much encouragement from or endorsement by existing political parties or opposition bigwigs. All over the world, the protesters of 2011 share a belief that their countries’ political systems and economies have grown dysfunctional and corrupt — sham democracies rigged to favor the rich and powerful and prevent significant change.

Der Freitag stellt dazu eine spannende Frage, die sich für uns auf die Suche nach der bewegten Mitte fokusiert. Wer sind die Leute, die sich über das Netz organisieren, ohne Anführer und ohne klaren politischen recht, links Background:

Aber wie kann dieses Kollektivsubjekt repräsentiert werden, wie kann man der weltweiten Empörung ein Gesicht verleihen? Medien und Staat fällt es gleichermaßen schwer, ihr Bedürfnis nach charismatischen Führungsfiguren, die man feiern (und bestrafen) kann, aufzugeben, insbesondere wenn es um Protestbewegungen geht. Die Anonymität und Führerlosigkeit – um nicht zu sagen Strukturlosigkeit – vieler internationaler Proteste sind Indikatoren ihrer Stärke und ihres Massencharakters.

Bei der Suche nach der Antwort muss man sich von gewohnten Interpretations-Versuchen verabschieden, die im letzten Jahr so oft scheiterten, wie sie angestellt wurden. Rechts, Links, Grün, Gelb – das alles greift zu kurz. Es sind lose Gruppierungen, die sich finden und sich auch wieder verlieren, um sich kurz darauf an anderer Stelle wieder neu zu finden. Das ist das Netz.

Dieses Netzwerk hat das Zeug zu echten Revolutionen

von Steffen Greschner am 16. Dezember 2011

Peter Kruse hatte bei der Enquete Kommision ”Internet und digitale Gesellschaft” im Juli 2010 einen Vortrag gehalten. Thema war das weltumspannende Netzwerk, das gerne als “Internet” verharmlost wird und doch das Zeug zu echten Revolutionen hat. Inzwischen sind also 18 Monate vergangen und die Kernaussagen des Beitrages sind aktueller denn je:

Die bloße Existenz des Internets erzeugt Erwartungshaltungen bezogen auf Beteiligung, die zu ignorieren, sich weder die Wirtschaft noch die Politik leisten kann.
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Für die Lebendigkeit demokratischer Prozesse ist die Entwicklung ein echter Glücksfall. Es zeigt sich immer mehr, dass die vielzitierte Politikverdrossenheit nur ein Ergebnis zunehmender Distanz gegenüber den etablierten Institutionen politischen Handels ist und keineswegs ein allgemein abnehmendes Interesse an politischen Fragestellungen signalisiert
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Das Internet und insbesondere die sozialen Netzwerke des Web 2.0 sind aufgrund der nicht-linearen Dynamik und der parallelen Informationsverarbeitung prinzipiell ein Angriff auf jede hierarchisch geprägte Organisationsform.
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In einer komplexen und dynamischen Welt ist die Bildung von Netzwerken sowohl das Problem, als auch die Lösung des Problems. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, vorherzusagen, dass das Thema von Machtausübung und Führung in den nächsten Jahren immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses rücken wird.

In den letzten eineinhalb Jahren hat sich einiges Getan: Eine grüne Regierung und ein Volksentscheid in Baden-Württemberg, ein spannender Wechsel im Berliner Senat und natürlich die Jasmin Revolution, die die arabische Welt in Unruhe versetzt. Eines haben diese Bewegungen gemeinsam: Sie sind entweder im Netz entstanden oder haben sich zumindest durch die neue Vernetzung der Menschen verbreitet und verstärkt.

Peter Kruse hatte für seinen Vortrag begleitende 10 Thesen aufgestellt, die nach wie vor extrem spannend sind:

1. Die emotional geführte Debatte um die negativen persönlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der digitalen Medien ist Ausdruck der ganz normalen Zurückhaltung gegenüber neuen Technologien.

2. Die angeblich durch die digitalen Medien ausgelöste Überforderung durch Informationsüberflutung ist eine Frage der Bewältigungsstrategien und nicht Folge des Erreichens prinzipieller Kapazitätsgrenzen.

3. Aufgrund des im Internet realisierten strukturellen und funktionalen Entwicklungsstandes entsteht ein generell wachsendes Bedürfnis der Menschen, sich aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.

4. Durch die enorme Vernetzungsdichte, die hohe Spontanaktivität der Nutzer und die Existenz länger kreisender Erregungen besteht im Internet eine hohe Auftretenswahrscheinlichkeit für Lawinen-Effekte.

5. Mit der Möglichkeit des spontanen Entstehens von Massenbewegungen durch Resonanzbildung in den sozialen Netzwerken verlagert sich die Macht grundlegend von den Anbietern auf die Nachfrager.

6. Durch die enorme Zunahme der Nutzerzahlen und die Angleichung der Altersverteilung der User an die Gesamtbevölkerung wird die Internet-Dynamik zunehmend zum Spiegel von Gesellschaftsdynamik.

7. Die durch das Internet gesteigerte Einsichtsfähigkeit in gesellschaftliche Zusammenhänge führt in Verbindung mit dem Wissen um die Macht der Resonanzbildung zur Re-Politisierung der Öffentlichkeit.

8. Das erstarkende öffentliche Interesse am Spiel der Kräfte zwischen unterschiedlichen StakeholderPerspektiven fordert von Unternehmen und Institutionen maximale Transparenz und Nachhaltigkeit ab.

9. Die Machtverschiebung durch das Internet stellt eine große kulturelle Herausforderung dar für alle Organisationen mit primär auf Systemkontrolle und Wettbewerb ausgerichteten Handlungsstrategien.

10. Das im Internet bestehende Missverhältnis zwischen der erlebten Flüchtigkeit von Interaktionen und der dauerhaften Speicherung hinterlassener Spuren erhöht systembedingt das Risiko von Missbrauch.

Das komplette Dokument kann über die Seite des Bundestag als PDF runtergeladen werden.

[x Politics] – offener Brief an bayerischen Gemeinderat

von Steffen Greschner am 9. Dezember 2011

Wir hatten vor kurzem schon einmal am Beispiel Stuttgart21 beschrieben, wie freie regionale Netzmedien Einfluss auf die politische Teilhabe haben und diese fördern.

Ein tolles Beispiel, wie Politik im Gegenzug auch Anregungen “von unten” aufnehmen kann, zeigt ein offener Brief der Piraten Oberbayern:

An die Mitglieder des Gemeinderat Bad Wiessee
An Herrn Bürgermeister Peter Höß

Hausham, den 8.12.11

Offener Brief: Gibt es etwas zu verbergen?

Sehr geehrte Mitglieder des Gemeinderates Bad Wiessee,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister Peter Höß,

Die Piraten im Landkreis Miesbach fragen sich, warum öffentliche Sitzungen nicht öffentlich übertragen werden sollen? Damit werden Bürger der Gemeinde, die an der persönlichen Teilnahme verhindert sind, seien es familiäre, berufliche oder gar gesundheitliche Gründe, von den Versammlungen ausgeschlossen.

Natürlich freuen wir uns über die Bereitstellung realer Sitze für interessierte Gäste, jedoch ist es bei Präsenzzwang Interessierten nicht möglich, die Sitzungen des Gemeinderates zeitversetzt zu verfolgen. Leider werden meistens auch nur Ergebnisse protokolliert, die gesamte Diskussion bleibt somit verborgen.

Die Piraten im Landkreis Miesbach ermutigen Sie daher, Ihren Beschluss, neu zu überdenken, Demokratie zu leben und auch virtuelle Sitze für interessierte bereitzuhalten.

Außerdem würden wir uns freuen, wenn der Gemeinderat die Sitzungstermine, Tagesordnungen und seine Protokolle zeitgemäß im Internet ankündigt und veröffentlicht, zum Beispiel per E-Mailnewsletter, Netzwerkkalender oder RSS-Feed.

Die Piraten aus dem Landkreis Miesbach

Stellvertretend:
Gerhard Brugger, Bad Wiessee
Andreas Witte, Holzkirchen

[x Politics] hatte das Thema vor einigen Wochen aufgegriffen und gemeinsam mit einem Tegernseer Lokalblog weiter ausgearbeitet. Als Ergebnis hatte der Gemeinderat das Thema auf die Tagesordnung genommen – und als nicht erwünscht abgelehnt. Jetzt zieht es weitere Kreise.

Anstatt Parteitag: politische Diskussion als Festival

von Steffen Greschner am 7. Dezember 2011

Um mehr basisdemokratische Elemente in den Abstimmungsprozess von Initiativen und Parteien zu bringen, braucht es neue Rahmenbedingungen. Die Piraten testen mit Liquid Feedback und offenen Parteitagen ohne Delegierte, was man damit erreichen kann.

Wie kann ein Parteitag aussehen, der nicht nach dem gewohnten Muster abläuft? Wie schafft man den Raum für echte Diskussionen und demokratisch getroffene Entscheidungen? Michael Hartung ist Mitglied im Orga-Team der Berliner Piraten und hat dazu seine eigene Vorstellung:

Meine Idee ist es einen langen Parteitag abzuhalten, eine Woche lang, damit alle Themen drankommen, wir jedes Thema auf die Verwendbarkeit im Wahlprogramm abklopfen können und um zu zeigen, daß wir auch in diesem Fall basisdemokratisch sind, weil wir aus Zeitmangel nicht einfach Anträge beiseite wischen. Ich gehe hier grundsätzlich nicht darauf ein, daß es eine Menge Anträge gibt, die wenig mit den Piraten und den Zielen kompatibel sind. Aber solche Anträge und auch die Beiträge von irgendwelchen Lunatics werden mit Sicherheit von der ganz überwältigenden Mehrheit der Piraten entsprechend abgelehnt und weggestimmt. Da bin ich ganz zuversichtlich. Der gerade abgelaufene BPT112 ha das ja zu fast aller Zufriedenheit bewiesen. Nur brauchen wir Zeit, dies in einer demokratischen und transparenten Art zu tun.

Es gibt auch eine (relativ) gute Möglichkeit dies auch zu einem finanziell verkraftbaren Betrag durchzuführen: im Sommer, wenn die meisten Sommerferien haben, auf dem Land wo man campen kann oder einer aufgegebenen Kaserne/Flugplatz wo es Unterkünfte und Hallen gibt wenn es regnet. Die Infrastruktur können wir. Die Versorgung können wir. Die Orga können wir (danke nochmal an das ORGA-Team), das meiste können wir, diszipliniert sind wir und einfallsreich genug um alle Schwierigkeiten zu meistern sind wir auch.

Eine Woche Politik und Abends noch die passenden Parties, Konzerte und Raum für neue Ideen. So kann Politik ein Thema werden, dass nicht nur trockene Arbeit, sondern ein echtes Event wird.

Die Diskussion zu dem Thema auf Hartungs Blog ist absolut lesenswert.

Kretschmann für mehr Einfluss der Zivilgesellschaft in BW

von Steffen Greschner am 6. Dezember 2011

Im Nachgang zur Volksabstimmung in Baden-Württemberg, kommt eine der sinnvollsten Aussagen direkt vom Ministerpräsidenten selbst. Kretschmann hat in einem Interview über die Zukunft der direkten Demokratie in Baden Württemberg gesprochen und klar gemacht, wo für Ihn die Reise hingeht:

Südkurier: Hat diese Volksabstimmung Ihr Vertrauen in die repräsentative Demokratie wieder ein wenig gestärkt?

Winfried Kretschmann: Mein Vertrauen in die repräsentative Demokratie ist ungebrochen. Die Parlamente sind und bleiben das Rückgrat unserer Demokratie. Grundsätzlich hat eine direkte Demokratie keine höhere Legitimation als demokratische Beschlüsse im Parlament. Das hielte ich für ein Missverständnis. Außerdem kann das Volk genauso falsche Beschlüsse fassen wie das Parlament. Ich sage aber auch immer, am Ende entscheidet nicht die Wahrheit, sondern die Mehrheit. Entscheidend ist doch, dass wir in erster Linie neue Formen der Beteiligung an politischen Entscheidungen brauchen – sehr viel früher als bei Stuttgart 21 und sehr viel breiter als nur über Volksabstimmungen. Vereinfacht gesagt: Wenn am Ende dieser Legislaturperiode die Zivilgesellschaft in wichtigen Fragen denselben Zugang, denselben Einfluss auf die Institutionen und das Parlament hat wie ihn die staatlichen Interessengruppen oder Lobbys schon immer hatten, dann haben wir einen guten Job gemacht.

Südkurier: Sie unterstellen großen Beteiligungswillen der Bürger. Sind Sie da nicht zu optimistisch?

Winfried Kretschmann: Seit der berühmten Leichenrede von Perikles vor 2500 Jahren gilt auch bei uns der Grundsatz: wer sich aus allem raushält, ist kein stiller, sondern ein schlechter Bürger. Darauf basiert die Lebendigkeit unserer Demokratie. Wer nicht abstimmt, der hat seinen Einfluss selbst außer Kraft gesetzt. Deswegen halte ich Quoren letztlich für unsinnig. Den Gefallen müssen wir den abstinenten Bürgern nicht tun, ihnen dadurch Macht zu verleihen, dass sie wegbleiben. Insofern gilt: Wir müssen uns an der Sache entlang streiten, um uns nicht immer in diesem reflexartigen Schlagabtausch zu ergehen, von dem viele Leute zu Recht die Nase voll haben.

Gerade der Einfluss der gewünschte Einfluss der Zivilgesellschaft ist der wichtigste Punkt der nächsten Jahre. Es müssen Wege und Formen gefunden werden, wie sinvolle Teilhabe und Mitsprache organisiert wird. Alles andere kommt danach.

Piraten und BGE: Mutiger Schritt mit vielen Chancen

von Steffen Greschner am 4. Dezember 2011

Was die Piraten da gestern beschlossen haben, ist vielleicht der mutigste Beschluss, den eine Partei in den letzten Jahren gefasst hat. Abgestimmt. Gegen den Willen der Spitze:

Denn was sich hinter dem soeben beschlossenen Antrag “PA284″ verbirgt, hat es in sich. Die Piratenpartei spricht sich nach einer hitzigen Debatte für die Einführung des Bedingungslosen Grundeinkommen aus. Ein Entschluss, der die Partei auf Jahre hinaus prägen wird. Er legt ihren sozialpolitischen Standort fest. Er schärft eine bisher wachsweiche Position im Programm der Piraten und ersetzt sie durch einen Beschluss, der diesen so sehr mit Emotionen besetzten Begriff enthält. Dazu hat jeder eine Meinung, manche auch gleich zwei, wie man an diesem Nachmittag in Offenbach hören konnte.

“Bedingungsloses Grundeinkommen” – der Begriff ist extrem belastet. Die Piraten hätten gut daran getan, eine neue Begrifflichkeit dafür zu erdenken. An der Sache ändert es aber wenig: Die festgeschriebene Forderung ist spannend und sorgt für eine tiefgründige Beschäftigung mit Themen, die uns alle in Zukunft beschäftigen werden.

Wie organisieren wir eine (Wissens-)Gesellschaft in der Leistung nicht mehr nur durch industrielle Produktivität gemessen werden kann. Wie organisieren wir ein Wirtschaftssystem, dass nicht nur auf Wachstum basiert. Wie schaffen wir Grundbedingungen, die auch in Zukunft für Zufriedenheit und Entwicklung sorgen können.

Wir hatten dazu vor einiger Zeit geschrieben:

Computer und Maschinen haben uns tatsächlich den Großteil aller lästiger Arbeit abgenommen. Zurück bleiben fehlende Arbeitsplätze und unzufriedene Gesellschaftsschichten, für die auch in Zukunft nur wenig Perspektiven geboten sind. Der Grund dafür ist, dass die Möglichkeiten, die vor uns liegen nicht genutzt werden. Stattdessen klammert man sich an alte Gewohnheiten und versucht die mögliche Veränderung mit rückwärtsgewandten Konzepten zu bekämpfen.

Netzwertig geht einen Schritt weiter und zeigt die Punkte auf, um die es eigentlich geht:

    • Wir sollten uns verinnerlichen, dass der technologische Fortschritt primär die Arbeit überflüssig macht, die Menschen wenig Stimulation und Selbstverwirklichung bietet.
    • Wir sollten erkennen, dass der technologische Fortschritt uns dazu zwingt, unsere Sichtweise auf den Stellenwert von zum Selbstzweck gewordener herkömmlicher Arbeit zu überdenken und zu erneuern.
    • Wir sollten damit beginnen, den Begriff der Arbeitslosigkeit zu neutralisieren. Das ist schwierig, wird lange Zeit in Anspruch nehmen und kann nur funktionieren, wenn Arbeitslosigkeit nicht mehr mit einer existenzbedrohenden Situation verbunden ist
    • Wir sollten uns von sämtlichen Ideologien befreien, die uns an diesem unausweichlichen Umbau hindern.

Die Punkte sind richtig. Ich würde noch den Punkt Wachstum hinzufügen:

Die Piraten haben sich gestern selbst auferlegt an diesen Punkten zu arbeiten und sich Lösungsansätze zu erarbeiten, die nichts mit aktueller Politik und Denkweise zu tun haben. Was sich die Piraten aufgebürdet haben ist, einen neuen Weg für die moderne Gesellschaft zu ergründen.
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Ein Linksruck ist das nicht. Auch wenn viele das gerne hätten – der Einfachheit halber.
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App für direkte Demokratie – Facebook erobert Politik

von Steffen Greschner am 4. Dezember 2011

UDL-Digital (E-Plus-Gruppe) hat eine App vorgestellt, die politische Teilhabe und Transparenz  erleichtern soll:

Mit der App soll es möglich sein, allen aktuellen Bundestagsabgeordneten direkt Nachrichten per Email und über abgeordnetenwatch.de schreiben zu können. Außerdem sind die Abgeordneten-Profile direkt mit den Twitter- und Facebook-Profilen der Politiker verknüpft. Im UDL-Blog heißt es dazu:

Der erste Bereich führt alle Bundestagsabgeordneten mit ihren Biographien und Kontaktdaten auf und ermöglicht ein Filtern dieser nach Partei, Bundesland und Ausschuss. Das Besondere im Vergleich zu bereits verfügbaren Tools: Die UdL Digital-App zeigt darüber hinaus die jüngsten Social Media Aktivitäten der Abgeordneten auf. Direkt aus der App hinaus, können die Beiträge des jeweiligen Abgeordneten via facebook und twitter geteilt, gelikt, direkt kommentiert oder hinterfragt werden.

Wie deutsche Politiker Facebook nutzen, bzw. wie sehr sie Facebook noch vor einem Jahr unterschätzt haben, zeigt eine parallele Umfrage unter deutschen Bundestagsabgeordneten. Glaubten die befragten Abgeordneten letztes Jahr noch, dass bis 2013 lediglich 60% der Abgeordneten Facebook überhaupt nutzen werden, sind es 2011, also ein Jahr später schon 66% der Abgeordneten, die Facebook in Ihren politischen Alltag integrieren:

Bei allen anderen abgefragten Diensten, sind die Prognosen der zukünftigen Nutzung, sowie die aktuelle Nutzung allerdings eher rückläufig, bzw. unverändert. Es sind also auch in der Politik die handfesten (und durch Facebook meist privaten) Erfahrungen, die den Einsatz digitaler Medien im Alltag beflügeln.