Direkte Demokratie

Initiative S: Stuttgart etabliert Volksversammlungen

von Steffen Greschner am 20. September 2011

In Stuttgart wird politischen Teilhabe inzwischen sehr aktiv betrieben. Unter dem Motto “Wir reden mit” hat sich eine Initiative gebildet, die das Demokratie-Experiment weiter voran treiben will (PDF):

„Wir reden mit!“ heißt die neue Form, Bürgerwillen zu artikulieren. Sie soll künftig als „Volksversammlung auf dem Marktplatz“ durchgeführt werden. Sie wird vom Verein „Leben in Stuttgart“ ins Leben gerufen. „In Stuttgart soll eine neue politische Kultur entstehen“.

Stuttgart ist inzwischen zum großen Versuchsfeld direkter Demokratie geworden: Bürgerhaushalte, Schlichtungen, öffentliche Gutachterdebatten. Auf der “Volksversammlung” haben sich neben Ministerpräsident Kretschmann auch schon andere Minister gezeigt und angekündigt.

Andere Initiativen suchen nach neuen Formen der Berichterstattung und so gibt es von der letzten aufgeheizten Volksversammlung mit Oberbürgermeister Schuster einen Videomitschnitt:

Wir reden mit Schuster from fluegel.tv on Vimeo.

Initiative S: wie politscher Diskurs eine Stadt verändert

von Steffen Greschner am 25. August 2011

Zwei Filmemacherinnen haben eine sehr sehenswerte Dokumentation über das komplette letzte Jahr in Stuttgart gedreht, die gestern in der ARD ausgestrahlt wurde:

Der Protest gegen “Stuttgart 21″ veränderte das Land Baden-Württemberg, die ganze Republik – und radikal Stuttgart: Menschen aller Schichten, Altersgruppen, weltanschaulicher Zugehörigkeiten gingen gemeinsam auf die Straße, entfalteten ungeahnte Energien und Kreativität.


Auch einige, der aus Stuttgart21 entstandenen Initiativen und Projekte werden vorgestellt. Unter anderem FluegelTV, deren Ü-Bollerwagen vielleicht die Zukunft demokratischer Bürgermedien werden könnte – auch wenn das ganz aktuell nicht jedem Recht zu sein scheint.

In der Dokumentation wird die Stimmung und Entwicklung in Stuttgart angenehm neutral dargestellt: Ein politischer Diskurs, der der neuen Rot-Grünen Landesregierung nach wie vor viel Zuspruch bringt und zum Experiment einer öffentlichen Schlichtung zwischen Bürgern und Politik geführt hat..

Berliner Piraten punkten mit (mehr)neuen Themen

von Steffen Greschner am 20. August 2011

Bei den Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus wird sich zeigen, ob die Gesellschaft der Hauptstadt bereit für neues ist. Anders als in Baden Württemberg, sind die Werte der Berliner Grünen nicht mehr nur im Höhenflug. Spannend ist an der Stelle aber die Entwicklung der Piratenpartei, die mit neuen Themen zu punkten versucht:

Die Piraten wollen nicht mehr als Ein-Themen-Partei gelten. Sie treten für einen gesetzlichen Mindestlohn ein und mittelfristig für das bedingungslose Grundeinkommen. Außerdem sprechen sie sich für eine Förderung genossenschaftlicher Wohnmodelle und gegen Wohnungsprivatisierungen aus.

Auch beim Thema direkte Demokratie wagen sich die Piraten in ihrem Programm für Berlin an neue Modelle heran:

Wir streben die Schaffung einer Online-Demokratieplattform an. Damit ist ein System gemeint, in dem alle Bürger die Möglichkeit haben, gemeinsam politische Entscheidungen zu treffen. Die Ergebnisse sollen zunächst in Volks- bzw. Bürgerentscheiden münden, in denen sie als verbindlich bestätigt werden.

Mit den Themen arbeiten sich die Piraten in Berlin langsam aus dem “Sonstige-Parteien-Balken” heraus:

Laut Infratest dimap erreicht die Partei derzeit einen Wähleranteil von 3 Prozent. Seit 11. August heben die Wahlforscher die Piratenpartei deshalb eigenständig hervor, anstatt sie unter “Sonstige” einzusortieren. Dem Meinungsforschungsinstituts Info zufolge erreichen die Piraten sogar 4,5 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl kam die Partei in Berlin auf 3,4 Prozent.

In einigen Punkten erinnert das (liberale)Programm der Piratenpartei an die Grundsätze der Grünliberalen Schweizer.
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Durch die Möglichkeiten im Internet entstehen immer mehr Projekte, die an den klassischen Medien vorbei, den (politischen)Diskurs in der Gesellschaft fördern.

Mit Fluegel.tv hat sich ein Stuttgarter (online)Fernsehsender etabliert, der sich politische Berichterstattung auf die Fahnen geschrieben hat:

“Es passiert zur Zeit so viel hier in Stuttgart”, sagt (fluegel.tv-Mitinitiator) Puttenat. Es gebe diverse Anfragen für Bürgerforen und Podiumsdiskussionen, die als Livestream übertragen werden sollten. Weiterhin soll es “ungehetzte” Interviews geben – ohne Sendezeitbeschränkung und nachträgliche Bearbeitung. Außerdem plant fluegel.tv mit anderen alternativen Medien wie der Wochenzeitung “Kontext” zusammenzuarbeiten.

Ursprünglich aus der Bewegung gegen Stuttgart21 entstanden, hat sich Fluegel.tv inzwischen als echtes Medium für den Stuttgarter Raum etabliert, das sich aus Überzeugungstätern rekrutiert. Viele davon im Hauptberuf Fernsehjournalisten:

Heute sind es mehr als 20 ehrenamtliche Mitarbeiter. Etwa die Hälfte davon sind im Hauptberuf Journalisten, zum Beispiel beim SWR. Das kommt der Professionalität der Berichterstattung zugute. Den Machern ist wichtig, dass sie unabhängig berichten – und über alle beteiligten Parteien informieren. Die technische Ausstattung wird über Spenden finanziert. Mittlerweile berichtet Fluegel.tv nicht mehr nur über den Protest gegen Stuttgart 21, sondern auch über die Proteste gegen das Atommülllager Gorleben oder die grün-rote Koalition im baden-württembergischen Landtag.

Der neueste Beitrag auf Fluegel.tv dreht sich allerdings um das alte Thema Stuttgart21. Trotzdem ein schönes Beispiel dafür, was die Macher laut eigener Aussage mit “Wir zeigen, was im Fernsehen nicht kommt” meinen – 1 Stunde 28 Minuten und 19 Sekunden spricht der Tübinger Oberbürgermeister ungeschnitten über S21. (Das Video wurde in den ersten fünf Tagen knapp 4.000 Mal aufgerufen):

Palmer zum Stresstest from fluegel.tv on Vimeo.

Die kommunale Haushaltsplanung den Bürgern überlassen?

von Steffen Greschner am 3. August 2011

In Stuttgart passiert seit den Querelen um den Bahnhofsneubau viel in Richtung Bürgerbeteiligung. Mit dem aktuell beendeten Bürgerhaushalt für 2012/2013 kommt ein neues Signal aus der Landeshauptstadt:

8983 Teilnehmer, 1745 Vorschläge und rund 243.000 Bewertungen der Vorschläge in nur drei Wochen: Die Phase1 der Aktion Bürgerhaushalt habe bei der Bevölkerung außerordentlich große Resonanz gefunden, bilanzierte Stuttgarts OB Wolfgang Schuster am Mittwoch.

Die erste Stadt, die ihre Bürger nach Vorschlägen zur Haushaltsplanung fragt ist Stuttgart nicht. Seit Berlin Lichtenberg 2005 den ersten Versuch startete sind rund 100 Kommunen nachgezogen.

Schön ist, dass sich in Stuttgart nicht alles um nur um Stuttgart 21 dreht:

Unter den Top 100 finden sich fünfzehn Vorschläge zum öffentlichen Personennahverkehr, vierzehn zur Stadtplanung, zwölf zum Verkehr und elf zu Kindern, Jugend und Familie. Stuttgart 21 wird nur neunmal thematisiert.

Die kompletten Bürgervorschläge und mehr Info zum weiteren Ablauf der Aktion findet man auf der Aktionsseite der Stadt Stuttgart.

Vor einigen Tagen hatte mit Karlsruhe auch schon die nächste große Stadt in Baden Württemberg Interesse für ein ähnliches Modell gezeigt. Wer sich mehr für das Thema interessiert findet auch einige aktuelle Lektüre dazu.

Mehr Bürgerbeteiligung ist für viele der Schlüssel für eine demokratische Zukunft. Mit der grünen Landesregierung in Baden-Württemberg steht sogar eine politische Gruppe oben dran, die versucht einen Weg für Bürgerentscheide zu finden. Manchem macht die Abkehr vom starken Staat auch einfach Angst.

Im Züricher Tagesanzeiger ist ein sehr lesenwertes Interview zu aktuellen Trends in Deutschland (und zu deren rechtlicher Umsetzbarkeit):

Das Problem ist, dass die Verfassungsarchitekten (in Deutschland) gezielt auf die Repräsentativverfassung gesetzt haben. Dazu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht in Deutschland extrem stark ist und das letzte Wort hat – nicht das Volk, wie in der Schweiz. Damit haben wir eine Struktur, die sich dagegen sperrt, dass man direktdemokratische Arrangements in grossem Umfang importieren könnte. Das würde wie ein Sprengsatz wirken und das Volk gegen die Verfassung und das Bundesverfassungsgericht aufwiegeln.

Auf der Suche nach mehr Mitsprache, entsteht fernab der politischen Landschaft – und ganz ohne Schweizer Vorbild – seit einiger Zeit eine ungewöhnliche Protestkultur aus der sich noch einiges entwickeln kann.

Eine sehr umfangreiche Auflistung von Modellen und Ansätzen für direkte Demokratie findet man auf www.buergergesellschaft.de.